Kery James: Rap als Staatsbürgerkunde (2024)

Kery James: Rap als Staatsbürgerkunde (1)

Alix Mathurin wuchs in einer ärmeren Banlieue auf, gab sich als junger Rapper einen amerikanischen Namen und landete in einem Milieu voller Gewalt und Drogen. Dann kam ein Bruch in seinem Leben.

Nina Belz, Paris

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Kery James hat in seinem Leben schon viele Grenzen überschritten. Als Jugendlicher in der ärmeren Pariser Banlieue freundete er sich mit den falschen Leuten an, es kam zum Bruch mit seinen Eltern. Mit Anfang zwanzig konvertierte er vom Christentum zum Islam und nannte sich fortan Ali. Und im Laufe seiner Karriere als Rapper distanzierte er sich von bekannten Kollegen: Ihre Musik sei zu kommerziell, ihre Texte zu simpel, gewaltverherrlichend und daher in einem gewissen Masse verantwortungslos.

Solche Sätze haben den 41-Jährigen zum Liebling der französischen Medien gemacht. Während andere einheimische Rapper wie Booba und Kaaris Schlagzeilen machen, weil sie sich in einem Flughafen prügeln, wird James in der wichtigsten französischen Radiosendung zum «peripheren Frankreich» interviewt. Dort ruft er dann die Bewohner der vernachlässigten Banlieues dazu auf, nicht passiv auf den Staat zu hoffen, sondern eigenverantwortlich zu handeln – in Worten, die er genau so in seinen Songs rappt.

«Man ist nicht zum Scheitern verdammt», heisst es in seinem vielleicht grössten Hit «Banlieusards», und James’ Werdegang belegt das: Er wurde als Alix Mathurin auf Guadeloupe geboren, zog siebenjährig mit seiner geschiedenen Mutter, einer Haitianerin, und den zwei Schwestern in den Pariser Vorort Orly. Dort würden die Kinder eine bessere Zukunft haben, hofften die Eltern. Schliesslich ist die Arbeitslosigkeit im Überseedépartement stets deutlich höher als in Kontinentalfrankreich.

Ein Hit wurde zensiert

Alix konzentrierte sich, zur grossen Enttäuschung seiner Eltern, schon bald weniger auf die Schule als auf den Rap. Er nannte sich Kery, weil seine Vorbilder amerikanische Gangster-Rapper waren. Als 13-Jähriger gründete er seine erste Gruppe. Ideal Junior hatte Erfolg mit drastischen Worten und brutalen Videoclips. Einer ihrer grössten Hits, «Hardcore», wurde deshalb zensiert. Für Rapper ist das natürlich eine Auszeichnung.

Dann kam ein Bruch in James’ Leben: 1999 wurde sein langjähriger Freund und Musikerkollege Las Montana ermordet, er verbrannte in einem Auto. Vermutlich war es eine Abrechnung; ihr beider Umfeld war geprägt von Gewalt, Waffen und Drogen. «Es gab viele Momente, die mich geprägt haben, aber dieser hat mich komplett aus der Bahn geworfen», sagt James. Er habe damals begriffen: Wenn er so weitermache, werde er vielleicht genauso enden.

James wäre der geborene Politiker: Er hat eine Mission, ist rhetorisch stark und fühlt sich auf der Bühne wohl. Aber Politiker würde er nie werden, wie er entschieden sagt.

James verliess die Musikszene, distanzierte sich von seiner Umgebung, wurde Muslim. Doch die Musik und besonders das Schreiben liessen ihn nicht los. 2001 veröffentlichte er sein erstes Soloalbum. Noch immer Rap, aber kaum wiederzuerkennen: James rief nicht mehr zur Rebellion in der Banlieue auf, sondern zum Waffenstillstand. Er rappte über seine Herkunft und den Islam. Den Sinneswandel begründet er so: Wenn junge Vorstädter dauernd dazu aufgefordert würden, Waffen zu nutzen und Drogen zu verkaufen, habe das desaströse Auswirkungen auf den Alltag in den Banlieues.

Einen Rückfall gab es. 2009 prügelte sich James mit dem Rapper Black-V-Ner wegen eines Geldstreits in einem Radiostudio und wurde zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Daraufhin verschwand er für drei Jahre von der Bühne. Er spricht heute von einer spirituellen Auszeit, die er mit seiner Familie vorwiegend im Nahen Osten verbracht habe. Man kann auch sagen, er tauchte unter.

Er ist seiner Banlieue entwachsen

Kürzlich hat Kery James sein siebtes Solostudioalbum veröffentlicht. Er spielte in grossen Hallen in Frankreich, Belgien und der Romandie für ein Publikum, das mit ihm gealtert ist. Und das bereit und in der Lage ist, 25 Euro für ein Konzert auszugeben. Vorstädter sind das kaum. Trotzdem glaubt James, dass seine Musik weiterhin in «unseren Quartieren» ankomme. Er sagt das, obwohl er mit Frau und Kindern längst nicht mehr in Orly wohnt.

Seine Botschaften verbreitet James auch mit seinem Verein Aces, der Bildungsstipendien für Kinder aus benachteiligten Familien vergibt. In diesem Rahmen besucht er, manchmal mit anderen Rappern oder dem Fussballer Franck Ribéry, Jugendliche in den Vororten. Er wisse, dass es den Jungen in den Banlieues viel Mut abverlange, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen, sagt James. Und auch wenn die Banlieusards systematisch diskriminiert würden, etwa wegen ihrer Hautfarbe oder durch willkürliche Verhaftungen, dann sei das noch lange kein Grund, es sich in der Opferrolle bequem zu machen.

Die Frage nach der Verantwortung für die andauernde Misere in den Banlieues treibt ihn so sehr um, dass er ihr ein Theaterstück gewidmet hat. Derzeit wird «A vif» («Überreizt») zum zweiten Mal in verschiedenen Städten gezeigt. James spielt einen von zwei Juristen, die für ihre Anwaltsprüfung lernen und darüber debattieren, ob der Staat allein verantwortlich sei für die Situation in den Banlieues.

Die Gelbwesten versteht er

James wäre der geborene Politiker: Er hat eine Mission, ist rhetorisch stark und fühlt sich auf der Bühne wohl. Aber Politiker würde er nie werden, wie er entschieden sagt. «Ich hinterfrage das, was wir in Frankreich Demokratie nennen.» Alle Politiker kämen aus denselben Schulen, den gleichen Kreisen. Mit Ehrlichkeit komme man nicht weit. Der Protest der Gelbwesten erstaunt ihn deshalb nicht. Den Demonstranten aus meist ländlichen Gebieten geht es zwar um eine andere Form der Diskriminierung als ihm, wie er sagt. «Aber wenn wir uns vorstellen, dass sich die Leute aus den Banlieues den Gelbwesten anschliessen, kommen wir vielleicht an den Punkt, an dem sich Linien verschieben.»

Seine Systemkritik beschränkt sich nicht nur auf die Politik. So macht er den Kapitalismus dafür verantwortlich, dass Frankreich heute ein so gespaltenes Land sei. Und den amerikanischen Einfluss dafür, dass der französische Rap oberflächlich geworden sei. Immerhin scheinen ihm seine eigenen Widersprüche bewusst zu sein. So wird sein nächstes Projekt, ein Film über die Banlieues, von Netflix produziert. «Ausgerechnet die Amerikaner, für die ich nicht gerade eine grosse Zuneigung verspüre, erteilen mir das Wort.» In Frankreich habe man ihm auf der Suche nach Geld alle Türen zugeschlagen. Man wolle offenbar nicht hören, was er zu sagen habe, behauptet Kery James. «Aber ich weiss, was ich tun muss, um meinen Forderungen Ausdruck zu verleihen.»

Seine Platten drehen sich um Detroit Die «Motor City» Detroit hat die Musikgeschichte schon mehrmals geprägt. Ihre Essenzen finden sich auch in den Techno- und Hip-Hop-Tracks des DJ und Produzenten Waajeed wieder.

Adrian Schräder

Mal Crack, mal Kamille, mal Halal-p*rno: «Vernon Subutex» erobert die Bühne Frankreichs schillernder Roman- und Antiheld, «Vernon Subutex» hat auf die Bühne gefunden. An der Uraufführung am Zürcher Theater Neumarkt zeigen sich die Grenzen und die Vorzüge einer Live-Action dieser Art.

Daniele Muscionico

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